Erste Hilfe für die Seele: Notfallseelsorge sucht und schult Ehrenamtliche

Es ist jedes Mal ein Blind Date mit den Gefühlen. Wenn Kai Rothaupt vor einer Tür steht, weiß er nie, was als nächstes passiert: Tränen, Wut, Geschrei, fassungslose Stille – alles ist möglich, wenn der 44-jährige die Türschwelle überschritten hat. Der gelernte Disponent und hauptamtliche Bestatter arbeitet in seiner Freizeit als ehrenamtlicher Notfallseelsorger in Dortmund; er kommt, wenn der Einsatzleiter vor Ort entschieden hat, dass Notfallseelsorge nötig ist – und er bleibt, wenn Polizei oder Notarzt ihren Einsatz beendet haben, um Beistand zu geben in Extremsituationen. Nun sucht die Notfallhilfe Verstärkung; eine spezielle Schulung für Ehrenamtliche startet nach den Sommerferien. Interessierte können sich ab sofort melden.

Pfarrer Hendrik Münz (rechts), Leiter der Notfallseelsorge in Dortmund, sucht Menschen, die wie Kai Rothaupt ehrenamtliche Notfallseelsorger werden möchten. Nach dem Sommerferien startet ein neuer Kurs – Interessierte sollten sich jetzt bewerben. Foto: Kirchenkreis / Nicole Schneidmüller-Gaiser

In die Medien schafft es die Notfallseelsorge meist nur mit den spektakulären Einsätzen. „Der außerhäusliche Bereich, das sind Verkehrsunfälle oder auch Brandeinsätze“, erklärt der Leiter der Notfallseelsorge, Pfarrer Hendrik Münz. Seit 2010 ist der 42-jährige Pfarrer für Notfallseelsorge und Seelsorge in Feuerwehr und Rettungsdienst des Ev. Kirchenkreises Dortmund und leitet in dieser Funktion ein 140-köpfiges Team, dem sämtliche evangelische Pfarrer*innen des Kirchenkreises angehören – und 52 ehrenamtliche Notfallseelsorger*innen. Polizei, Feuerwehr – und die beiden großen Kirchen sind in Dortmund Partner, die vertrauensvoll Hand in Hand arbeiten.

Natürlich kommt nicht bei jedem der 140.000 bis 150.000 Einsätze, die die Feuerwehr in Dortmund pro Jahr (!) fährt, die Notfallseelsorge zum Einsatz: „Im Schnitt haben wir jährlich 250 Einsätze.“ Für jeden der ehrenamtlichen Notfallseelsorger*innen bedeutet das: 16 Rufbereitschaften pro Jahr, also vier pro Quartal. Die Ehrenamtlichen tragen sich selbst in einer Liste ein. Nun soll das Team größer werden – denn die Notfallseelsorge arbeitet rund um die Uhr, an jedem Tag im Jahr stehen mindestens zwei Mitarbeitenden 24 Stunden in telefonischer Bereitschaft.

Die meisten der Einsätze erfolgen im häuslichen Bereich – nach einer erfolglosen Reanimation nach einem Herzinfarkt oder bei plötzlichem Kindstod. Und es ist vor allem das Plötzliche, das Unerwartete, das den Betroffenen den Boden unter den Füßen entreißt. Keine lange Krankheit, die dem Tod vorausging, mindert die Wucht des Ereignisses. Eben noch Alltag – und plötzlich ist der Partner, das Kind, der geliebte Mensch nicht mehr da.

Kai Rothaupt wirkt sachlich, fast schon distanziert, wenn er beschreibt, wie so ein Einsatz verläuft: „Klingeln muss man meistens nicht, die Polizei lehnt die Tür an, meist stellt jemand den Notfallseelsorger vor. Ich löse dann den Rettungsdienst ab.“ Er hat gelernt, eine Wohnung „zu lesen“. Stehen irgendwo Kinderschuhe herum? Gibt es eine Dokumentenmappe, die auf einen Pflegedienst hinweist?

Dann gilt es, das Gespräch zu eröffnen – ein Gespräch, das so unvorbereitet für den anderen kommt. „Wollen Sie mir erzählen, was passiert ist?“ Den Satz hat Kai Rothaupt schon etwa 40-mal gesagt, seit er seinen Ausbildungskurs 2021 abgeschlossen hat. Ein Satz, der zu nichts drängt, der aber alles zulässt. „Manche erzählen, andere lenken ab, erzählen mir vom Garten“, sagt Rothaupt. „Man muss das aushalten. Egal, was passiert.“

Zu diesem Zeitpunkt ist ein Notfallseelsorger auf sich gestellt. Darum sei die Schulung so hilfreich für die Ehrenamtlichen: „In der Ausbildung bekommen wir einen großen `Handwerkskoffer´ an Methoden.“ Dann geht es um die nächsten Schritte. Aber eben nicht nach „Schema F“.  „Notfallseelsorge ist eine anspruchsvolle Tätigkeit, man muss dafür geschaffen sein, sich zurücknehmen können, ein Gespür für die Bedürfnisse des anderen haben“, betont Hendrik Münz. Was braucht dieser Hinterbliebene, sollte jemand informiert werden, kann und soll jemand kommen? Hingegen geht es in diesen ersten Minuten und Stunden nicht darum, eine Antwort auf die Frage nach dem Warum zu finden. „Wir geben Halt und Orientierung, und halten dabei Trauer, Wut und Fragen ebenso aus wie Schweigen. Wir machen Notfallseelsorge, nicht Trauerbegleitung.“

Innere Distanz ist wichtig, um nicht selber hilflos zu werden, weiß Hendrik Münz. „Menschen mit einem `Helfersyndrom´ sind in unserem Arbeitsfeld schnell überlastet.“ Auch, wer eine längere Beziehung zum Gegenüber aufbauen möchte oder Dankbarkeit sucht, ist in der Notfallseelsorge fehl am Platz. „Nach zwei bis drei Stunden ist mein Einsatz meistens vorbei“, betont Kai Rothaupt. Er hinterlässt einen hoffentlich gestärkten Menschen – aber keine Telefonnummer. Im Anschluss ruft er jemanden aus dem Notfallteam an, reflektiert den Einsatz und dokumentiert die Arbeit. Alle zwei Monate gibt es eine verpflichtende kollegiale Fallbesprechung. „Teil einer Gruppe zu sein, ist toll“, sagt Kai Rothaupt. „Die Arbeit macht keinen Spaß – aber sie macht Sinn!“ Die Betroffenen weiß er, wenn er geht, in den guten Händen von Angehörigen, Gemeindepfarrern, manchmal auch dem Weißen Ring, Juristen oder Therapeuten.

Info-Kiste:

  • Die Ökumenische Notfallseelsorge Dortmund begleitet seit 1994 Menschen in Dortmund. Die Mitarbeitenden werden bei einem tragischen Ereignis von der Feuerwehr benachrichtigt, um Menschen in dieser Situation Beistand zu geben. Die Mitarbeitenden sind im christlichen Glauben verankert. Dabei praktizieren sie aber Offenheit und Achtung gegenüber anderen Religionen, Weltanschauungen und Kulturen.
  • In der Rufbereitschaft übernehmen mindestens zwei Seelsorger*innen jeweils einen oder mehrere 24-Stunden-Dienste.
  • Für die mehrmonatige Ausbildung werden 10 bis 20 interessierte Frauen und Männer ab 25 Jahren gesucht, belastbar und mit Gesprächs- und Lebenserfahrung, die bereit sind, sich für die „Erste Hilfe für die Seele“ schulen zu lassen und in der Rufbereitschaft der Notfallseelsorge Dortmund mitzuarbeiten.
  • Während der Schulung absolvieren die Teilnehmenden 100 Stunden an 20 Terminen, im Anschluss macht jeder und jede ein Praktikum auf dem Rettungswagen.
  • Die Notfallseelsorge-Ausbildung findet im Zentrum für Seelsorge und Beratung des Ev. Kirchenkreises Dortmund, Klosterstraße 16, Dortmund Mitte  statt. Sie beginnt am 2. September und endet im Mai 2024. Nach der Ausbildung findet ein Auswahlgespräch statt, nach dem über die Mitarbeit entschieden wird.
  • Weitere Infos erteilen Pfarrer Hendrik Münz (Telefon: 0231 / 22962-497, hendrik.muenz@ekkdo.de) und Pfarrer Meinhard Elmer (0231 / 73 08 54, meinhard.elmer@christleben.de.